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„Man könnte für den Rest seines Lebens über diesen Ort schreiben“

10. Oktober 2025 Von Michael Wolf

Drei Schriftstellerinnen aus Syrien, Belarus und dem Iran erkundeten auf Einladung der SPSG die Pfaueninsel. Und entdeckten das Eiland noch einmal ganz neu.

Annika Reich, Sie haben vor neun Jahren „Weiter Schreiben“ mitgegründet. Worum handelt es sich dabei?

Annika Reich Es ist ein Programm, das Autor:innen, die im Exil in Deutschland leben, unterstützt, weiterhin schriftstellerisch tätig zu sein. Das betrifft vor allem Autor:innen aus dem persischen und arabischen Sprachraum sowie aus der Ukraine. Wir übersetzen und veröffentlichen ihre Texte und bringen sie mit deutschen Verlagen, Kulturinstitutionen und Kolleg:innen in Kontakt. Außerdem organisieren wir Interventionen in Kulturinstitutionen wie der SPSG. In diesem Rahmen präsentieren die Autor:innen ihre immer überraschenden Perspektiven auf diese Orte. 

Bei einer solchen Intervention sind drei Autorinnen von „Weiter schreiben“ zur Pfaueninsel gekommen.

Annika Reich Wir wurden von der Stiftung gefragt, ob wir uns eine Kooperation auf der Pfaueninsel vorstellen könnten. Kurz darauf sind wir hingefahren und haben das Schloss besichtigt. Das war sehr beeindruckend. Ich bin selbst Schriftstellerin und glaube, man könnte für den Rest seines Lebens über diesen Ort schreiben – so viele Assoziationen und Geschichten sind hier greifbar.

Rabab Haidar, Sie sind eine der drei Teilnehmerinnen. War es Ihr erster Besuch auf der Pfaueninsel?

Rabab Haidar Ich habe bereits zuvor privat einen Ausflug dorthin unternommen. Aber erst im Zuge der Intervention ist mir die immense Vielschichtigkeit aufgefallen. Wohin man blickt, hat diese Insel etwas zu erzählen. Zuerst hat mich vor allem die frühe Zeit interessiert und besonders der Alchemist Johannes Kunckel. 

Er betrieb hier im 17. Jahrhundert im Auftrag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm eine Glasmanufaktur.

Rabab Haidar Zuerst wollte ich Kunckel channeln. Ich wollte nicht über die historische Figur schreiben, sondern über den mythischen Alchemisten, der in seiner Höhle in langen Phasen der Einsamkeit mit Glas und Feuer arbeitete. Das ist ein Prozess wie beim Schreiben: Man verbrennt sich immer wieder auf der Suche nach dem einen reinen Element, das alles in Vergessenheit geraten lässt, bis man dieses „Element“ in sich selbst findet. Doch immer, wenn ich Kunckel channeln wollte, tauchte fast gegen meinen Willen ein anderes Bild auf: ein Tagtraum. Die Insel ist wie ein Tagtraum aufgebaut mit dieser Schlossfassade, mit diesen seltsamen, exotischen Pfauen und ihren unheimlichen Schreien. Schließlich wurde Kunckel zur Nebenfigur und meine Arbeit verlagerte sich auf den Tagtraum. Schließlich verrät er nicht, wer man ist, sondern wonach man sich sehnt, wofür man brennt.

Sie haben dann über die Geliebte und Beraterin Friedrich Wilhelms II. geschrieben. Der König hatte das Pfaueninsel-Schloss für sich und Wilhelmine Enke bauen lassen.

Rabab Haidar Ihre persönliche Geschichte verbindet sich eindrücklich mit dem Schloss. Wie aus einem Märchen steht es da, mit seinen Türmen und den aufgemalten Steinquadern auf dem Fachwerk. Es ist zugleich real und eine Erfindung. Das hat viel mit dem Leben Wilhelmines zu tun, die keine Königin war, sondern nur eine Mätresse und dennoch wie eine Königin leben wollte. Vielleicht ist die ganze Insel der Tagtraum dieser ungekrönten Königin. Mich berührt das, als Schriftstellerin und als Außenseiterin, die ich bin. Für mich erzählt die Insel eine Außenseitergeschichte, aber auch eine sehr menschliche. Ich kann das sehr gut verstehen – auch aus einer feministischen Perspektive.

Annika Reich Wir fanden alle die Schreie der Pfauen sehr eindrücklich, tatsächlich haben alle drei Autorinnen sie in ihren Texten erwähnt. Für mich ist der Pfauenschrei eine Metapher für die ganze Insel. Da ist einerseits die Schönheit der Tiere und andererseits ihr Schreien, das durch Mark und Bein geht. Dieses Changieren haben wir überall wahrgenommen. Als wir beim Schloss ankamen, dachte ich erst, ich sei in einem Disney-Film gelandet. Von außen sah es aus wie eine schlechte Inszenierung, aber innen staunte ich dann, wie zart, voller Fantasie und Eleganz die Einrichtung gestaltet war. Da ist also einerseits diese Anmutung von Oberfläche, von Fake, andererseits aber auch dieser Ernst und diese Tiefe, in der Leid, auch koloniales Leid, verborgen ist. All das fand ich beim Pfau wieder, in seiner Schönheit und in seinem Schrei, der wie ein Schmerzensschrei klingt.

Vor allem in der Gestaltung des Otaheitischen Kabinetts im Pfaueninsel-Schloss drückt sich eine kolonial geprägte Faszination für andere Erdteile aus.

Annika Reich Auf der Insel ist eine große Sehnsucht spürbar, ein Verlangen. Man tritt dort in eine Zone der Unsicherheit ein, der Fragilität und Gefahr. Rabab und die beiden anderen beteiligten Autorinnen Nastaran Makaremi und Ludmila Pogodina sind auf ihre eigene Weise in ihren Texten mit diesen Empfindungen umgegangen.

Welche anderen Schlösser oder Parks könnten noch für Sie interessant sein?

Rabab Haidar Bei Schloss Sanssouci hatte ich dasselbe Gefühl wie auf der Pfaueninsel: Ich möchte dort sein. Ich möchte dort als Letzte am Abend sein und als erstes am Morgen. Ich möchte mich hineinversetzen in diesen Ort, nicht als Fremde, nicht als Exilantin, nicht als Deutsche, sondern einfach als Schreibende, die an dieser Energie teilhat. Denn diese Orte haben Energie.

Woher kommt die Energie?

Rabab Haidar Von den Steinen. Es klingt verrückt, aber Steine können Energie speichern. Ich glaube wirklich, dass unsere Geschichten aus uns heraus in einen Ort hineinsickern. Man kann das fühlen – sobald man ruhig und offen genug ist. Und die Energie dieser Epoche, in der Sanssouci und das Schloss auf der Pfaueninsel entstanden sind, war wirklich überwältigend.

Annika Reich Für mich als Autorin, die in Deutschland sozialisiert ist, ist Rababs Zugang sehr interessant, weil ich anders mit der Geschichte umgehe, umgehen muss. Die deutsche und preußische Geschichte und der Kolonialismus, auf den man auf der Pfaueninsel immer wieder stößt, liegt wie eine Last auf meiner Vorstellungskraft. Rabab spricht über diese Orte als jemand, der von all dem weiß, aber dennoch in der Lage ist, freier damit umzugehen.

Rabab Haidar Ich habe gemerkt, dass sogar bei meinem Gedicht die deutsche Reaktion sofort war: „Ja, aber…“ Für mich gibt es kein „Ja, aber“. Da ist die Schönheit. Die Insel ist schön an sich. Menschliche Geschichte ist etwas Erstaunliches, das man betrachten, berühren, fühlen kann. Ich genieße das sehr. Man darf Geschichte nicht nur durch die eigene Perspektive sehen. Man braucht immer das Andere, man braucht die anderen Perspektiven.

Ist es auch das, was „Weiter Schreiben“ als Ziel verfolgt? Wollen Sie den Blick auf Orte und Institutionen durch die Perspektiven und Texte der Teilnehmenden verändern?

Annika Reich Wir wollen ihn erweitern und bereichern. Es ist ein Geschenk, einen Ort durch meine Augen und zugleich durch Rababs Augen sehen zu können. Es ist, als gingen wir gemeinsam über die Insel, jede mit einem anderen Blick. So entstehen Risse in der scheinbar so klar und festgefügten Geschichte und lassen Licht hinein und mit diesen Rissen Schönheit, Humor und Sinnlichkeit. Das bedeutet nicht, dass ich die Kritik an der Geschichte verschwinden lassen möchte – überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie wird vielleicht sogar stärker, wenn man die Möglichkeit hat, sich die Geschichte zu eigen zu machen und sie sich nicht vom Leib hält.

Lesen Sie die literarischen Texte von Rabab Haidar, Nastaran Makaremi und Ludmila Pogodina online unter spsg.de/weiterschreiben oder nehmen Sie sich ein kostenloses Exemplar der Publikation im Fährhaus auf der Pfaueninsel mit.
 

Rabab Haidar ist Kolumnistin und Übersetzerin. Sie schreibt für Die Zeit und Vogue Deutschland. Ihr Roman „Land des Granatapfels“ erschien 2012. Sie studierte Geistes- und Literaturwissenschaften und Englische Literatur in Latakia.

Annika Reich ist Autorin und Aktivistin. Ihre Romane und Kinderbücher erscheinen im Hanser Verlag. Sie ist Mitgründerin und Gesamtleiterin von „Weiter Schreiben“.


Der Beitrag ist zuerst erschienen im SPSG-Magazin SANS,SOUCI. 04.2025

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