Ach wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
Bertold Brecht, aus dem Gedicht
„An die Nachgeborenen“
Konnten selber nicht freundlich sein. Du hast mir gefehlt, Gertrud.1 Seit Langem schon fehlst du mir … Deine beispiellose Ruhe, die dem Zen und östlichen Meditationspraxen ähnelt. Deine tiefe, feste Verbindung zu allem auf dieser Welt, das lebendig ist. Von den Gräsern bis zu den Katzen und den hässlichen Pfauenküken
… Erinnerst du dich, Gertrud? Ich erinnere deine Schönheit immer auf diese Weise, in dieser ätherischen und erhabenen Stille, während deine Hände den Ton kneten, formen, Wundersames erschaffen. Wie ein kleiner, zarter, ein weiblicher Gott. Ganz anders als der sehnige, kräſtige Herr, umringt von seinen kleinen Engeln, den Michelangelo malte. Du warst ein sterblicher und nahbarer Gott, mit schräg stehenden, betrübten Augen. Hörst du die Geräusche? … Sie machen mich noch ganz verrückt. In meinem Kopf wirbeln sie herum, heulen, und kurz nachdem sie abgeklungen sind, machen aufeinanderfolgende Detonationen meine Ohren taub. Der Zweite Weltwahn, so hatte ich es damals genannt. Denn was außer einem Wahn vermochte die Welt derart für uns zu verdunkeln? „Die Sonne ist tot und ‚Morgen‘ hat in der Vorstellung der Kinder einen trüben, vergessenen Sinn angenommen.“ Das hatte Heckel2 mir vor Längerem einmal am Telefon rezitiert und gesagt, die Verse stammten
von einer iranischen Dichterin. Siehst du, Max,3 sagte er, wie schön und zart sie die Finsternis beschreibt, die über der Welt heraufgezogen ist … Und sagte, dass ihr Name Forugh4 sei … Was Licht bedeute. Auch das Licht hat in seinem Land also von der Finsternis geschrieben, sagte ich ihm darauf. Heckel habe ich ewig nicht gesehen. Heute ist er deprimiert und krank. Von den enthusiastischen Tagen unserer Jugend und all dem, was wir als „Brücke“-Gruppe miteinander erlebten, ist nichts übriggeblieben, und es ist, als seien seitdem tausend über tausend Jahre ins Land gegangen. Wir Krawallkünstler, wir Entarteten … Was die Nazis mit uns gemacht haben, überstieg die Härten des Krieges noch … Schau mich nicht so an. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir damals alle bloß versucht haben, zu überleben. Ich will nicht unter den Teppich kehren, dass ich feige gewesen bin, und will keinen Helden aus mir machen. Nein. Du hast recht, wenn du sagst, ich sei nichts gewesen als ein Künstler mit einem Hasenherz …
Nun bist du noch einmal zurückgekehrt, um in einer Oktobernacht am Wannseeufer aufzubrechen zur Pfaueninsel, mit einem alten und verrückten Maler, dem Forughs Verse im Kopf herumschwirren; Verse einer Dichterin aus der Welt von Tausendundeiner Nacht, hunderte Kilometer entfernt von uns; und das reicht mir …
Einmal, während der Bombardierung Charlottenburgs, habe ich alle meine Bilder verloren und später ein weiteres Mal hier auf der Pfaueninsel … Pfaueninsel … Was für ein prunkvoller Name. Als Stichwort für Erinnerungen an den Verlust eines unglücklichen Künstlers zu pompös und majestätisch. Wie ein Federrad, aufgeschlagen über Trümmern, das Rad eines teuflischen Pfaus. Der Künstler, der es vermochte, sich während des Kriegs vor dem Ruin zu bewahren, ist ohnehin ein sonderbares Geschöpf. Aber wenn ich darüber nachdenke, dann ist es noch immer das Etikett „Entarteter Künstler“, das mich mehr betrübt als die verbrannten Leinwände. Zensiert zu werden und systematisch ausradiert und all diese menschlichen Tragödien sind schmerzhaſter als eine Kriegsverletzung, schmerzhaſter als der ungleiche Krieg von Kampfflugzeugen gegen einen abgehalſterten Künstler.
In der Finsternis, mit ihren dichten Bäumen und dem schrillen Schrei der Pfauen, der gelegentlich zu hören ist, wirkt die Insel bizarr und furchteinflößend … – Hörst du sie? Sie schreien so laut und unablässig durch Nebel und Dunkelheit, als wollten sie einander über die Ankunſt der Fremdlinge unterrichten. Aber wir sind hier nicht fremd, Gertrud. Zumindest an dich, die die Pfauenküken aufgezogen hat, sollten sie sich erinnern.
Die Insel wirſt mich in die Tage zurück, in denen die tödliche Krankheit dir nach und nach das Leben aussaugte. Wenn du vom Tod sprachst, lachten wir; ich sagte, bis du mich Übel los wärst, sei noch lange hin, und wir beide wussten, dass das gelogen war. Eine gewöhnliche Lüge, die man den Todgeweihten erzählt. Vor uns liegen noch viele Tage! … Nein … Viele Tage blieben dir nicht. Die letzten Seiten wurden deinem Lebenskalender ausgerissen und jeden Morgen, den wir in dem verlassenen Gutshaus auf der Pfaueninsel die Augen aufschlugen, dachten wir uns still: „Diesen Tag haben wir noch …“
Und hier steht es, das Gutshaus, in dem du die letzten Tage deines Lebens verbracht hast. Überall an den Wänden sind noch immer Brandspuren zu sehen … Die Wände sind feucht und haben Moos angesetzt, ein modriger Geruch hängt über allem. In den Ecken und entlang der Wände steht allerlei Krempel, wie in einem Zeughaus. Für den Blick dahinter und darunter bin ich zu alt. Ich habe Sorge, etwas könnte mir auf den Fuß oder den Rücken fallen und dann wär’s das gewesen mit mir. Aber wo der Teufel mich schon mal hierher geritten hat, will ich nicht mit leeren Händen zurückkommen … Hier ist unser Schlafzimmer, Gertrud, und hier in der Ecke der Schrank, in dem du all die kleinen Dinge aufbewahrt hast, die dir lieb und teuer waren. Lässt du mich einen Blick hineinwerfen? Natürlich lässt du mich. Dafür bist du ja hergekommen…Sieh’s dir an … Ich kann’s nicht glauben … Das eine hier ist davongekommen. Schau, wie ramponiert, wie durchweicht und moosüberzogen es ist … Als hätte es lange im Morast gelegen … In solchen Momenten hat ein breiter Schal seine Nützlichkeit; ich wische das Moos weg und den abgelagerten Moder, die Läsionen und Alterserscheinungen … Sieh dir das Porträt an, Gertrud … Schau dich an … Was für ein Wunder … Wach und lebendig … Direkt vor mir, mit schräg stehenden, betrübten Augen, einem hässlichen Pfauenküken im Arm, und hinter dir die Stadt in Flammen…
Aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß
1 Gertrud „Turu“ Kant (1893–1944), Porzellanmalerin
2 Erich Heckel (1883–1970), expressionistischer Maler
3 Max Kaus (1891–1977), expressionistischer Maler
4 Forugh Farrochsad (1834–1967), iranische Dichterin