Weiter Schreiben – Intervention Pfaueninsel

Nothing is what it seems

Drei Autorinnen aus dem Iran, Syrien und Belarus wurden von der SPSG und Weiter Schreiben eingeladen, literarische Texte zu verfassen. Diese Texte greifen die Geschichte, die Natur und die Symbolik der Pfaueninsel auf und interpretieren sie neu. Entdecken Sie die einzigartigen Perspektiven dieser Autorinnen – lesen Sie ihre Texte nach!

Rabab Haidar

Pfade führen zurück dorthin, wo man losging / Römische Brunnen / Persische Blumen, oder vielleicht aus Frankreich!

Rabab Haidar ist Kolumnistin und Übersetzerin. Sie schreibt für Zeit Online und Vogue Deutschland. Ihr Roman „Land des Granatapfels“ erschien 2012. Sie studierte Geistes- und Literaturwissenschaften und Englische Literatur in Latakia.

Wirbelnde Treppenstrudel
Erklimme ich im Rauch.
Türmchen,
Torheiten auch.
Ein kleiner Schrein.
Über den Havelfluss
Richte ich den Blick:
Eure Laternen blinkern
Ihr flackerndes Licht
Zum Zeichen: Ihr seid mein,
Zum Zeichen: Ihr seid mein.

Das war ein Lied des Bänkelsängers,
Das in Vergessenheit geriet.
Nicht aufgeschrieben, ging es verloren.
Hände hinterlassen keine Spur im Wasser,
Doch ein Wort tut es.
Ein Wort_
Gewebt, verknotet,
In allem, was fließt:
In Wasser und Luft, Seelen und Geistern,
Sehnsüchten oder Wünschen,
Zart,
Durchsichtig,
Gläsern …

Deine Geschichte und meine fallen nun zusammen.
Ich, einst Alchemist,
Prophet des Feuers und der Elemente!
Jetzt hinbefohlen
Zu deinen Sehnsüchten und Wünschen,
Atme ich meine Worte in die Perlen, die ich blas’,
Strömendes, rasendes, glühendes Glas,

Rubinrot wie die Farbe des Traums,
Geträumt mit offenen Augen.
Ein Tropfen,
Ein Kuss,
Ein Schluck!

Ein guter Rat:
In einem Wachtraum
Enthüllt, was zu sein eine wählt, was sie nicht ist.
Nun lass den Traum beginnen …

Verzauberte Versprechen fallen ein in die Luft,
Getauft in Wasser,
Herzitiert von einem Bannspruch
Durch ein schwimmendes Gebet.

Davon, Euer Gnaden, drei Schluck!
Oder auch ein Kuss auf meine Lippen,
Sonst nehmt eine gläserne Perle,
Schluck!
Und du sollst gekrönt werden
Zur Herzkönigin.
Öffne die Augen.

Schau!
Ein Schloss, ein Türmchen, eine Fassade!
Ruiniert durch die Lasten von Wind
und Zeit …
Und doch nicht!
Ein Schloss aus Spielkarten,
Aus Holz und Lehm und weißem Tuch.

Exotische Inseln. Palmen
Aus dem fernsten Osten – auf einer Mauer.

Pfade führen zurück dorthin, wo man begann,
Römische Brunnen,
Persische Blumen, oder vielleicht aus Frankreich!
Die Glashütte mit loderndem Feuer
Und wirbelndem Rauch.

Verzauberte Pfauen,
Laute, krähende, klagende Rufe.
Warnungen!
Vor dem kommenden Schwinden der
Jahreszeiten …

Hände hinterlassen keine Spur im Wasser,
Aber ein Wort tut es.
Wie verbotene Liebe.
Ein warmes Häuschen mit Holz und Feuer.
Treppenstrudel, aufwärts …

Herzkönigin in einem Schloss aus Karten,
Ein guter Rat:
Was eine wählt, enthüllt, was sie nicht ist.
Nun lass den Traum beginnen …

Jenseits des Banns hat die Liebe keinen Ort, keinen Segen!
Jetzt drei Schluck von meinem Zaubertrank,
Einen Kuss auf meine Lippen
Oder eine rubinrote Perle.
Schluck.
Der Traum ist gegenwärtig.

Ein Wachtraum,
Lernen wir mit offenen Augen
Zu überleben,
Was Alpträume
aus gebrochenen Herzen schlagen.

Die Herrscherin
Wird die kommenden Länder erobern,
mein Liebes,
Wenn dein Liebster fort ist.

Ich, einst Alchemist,
Prophet des Feuers und der Elemente!
Aber jetzt, meine Königin, in einem Tagtraum:
Schluck nur eine Rubinperle
Oder küss mich auf den Mund,
Sonst nimm drei Schluck von meinem Glas.

Hier:
Eine Flüssigkeit, gebraut aus Bannsprüchen und Feuer
Kraft eines schwimmenden Gebets.

Wasser bewahrt von Händen keine Spur.
Aber, oh, ein Wort: das ja …

Wirbelnde Treppenstrudel
Erklimme ich im Rauch.
Türmchen,
Torheiten auch.
Ein kleiner Schrein.
Über den Havelfluss
Richte ich den Blick:
Eure Laternen blinkern
Ihr flackerndes Licht
Zum Zeichen: Ihr seid mein,
Zum Zeichen: Ihr seid mein.

Aus dem Englischen von Sylvia Geist (Gedicht) und Bettina Abarbanell (Prosatext)

Die Geschichte beginnt mit einer Liebesaffäre.

Es war einmal eine Mätresse, die eine Insel gestalten durfte. Die Insel wurde als Demonstration der Demut inszeniert, als Geste der Verbindung zur Natur, als Zurschaustellung globalen Wissens und Reichtums, während sie zugleich als Zufluchtsstätte diente, als eskapistischer in sich geschlossener Ort.

In der Gegenwart erkennen wir solche Orte eindeutig und zweifelsfrei als imperialistische, oft orientalistische kulturelle Aneignung. Dennoch sickert durch die kleinen Details des Orts und seiner Geschichte etwas anderes hindurch.

Um diesen Ort zu lesen, sollten wir uns die Menschheitsgeschichte als komplexe Materie anschauen anstatt nur durch die Brille von Schuld und Unschuld. Es fällt schwer, mit dem Wissen von heute die Vergangenheit nicht zu beurteilen, sondern sie vielmehr zu ergründen und zu vermessen, ja vielleicht den Menschen, ungeachtet der Zeiten, einem Faktencheck zu unterziehen. Die Insel ist ein profunder Akt des Rollenspiels, eine Performance, eine Fiktion, ein Imaginarium: Sie steht im Gegensatz zum Reich des Wirklichen. Vielleicht ist sie ein Tagtraum von der Liebesaffäre einer ungekrönten Königin.

Ein Tagtraum davon, was hätte sein sollen, aber nie war.

Ein Schloss, eigens so gebaut, dass es den Anschein von etwas erweckt, das es in Wahrheit gar nicht gewesen ist: Die Ruinen sind künstlich, die gemalten Inschriften zerfließen unter Wasser zu ertrinkenden Mustern.

Die Insel: geliehene römische Architektur, sorgfältig gemaltes Fachwerk, exotische Tiere und fremde Pflanzen, Hütten von Glasmachern, bewusst dort platziert, wo einst die Werkstatt von Johannes Kunckel stand, der wegen des Vorwurfs der Alchemie und Hexerei selbst verfolgt wurde und damit eine Fiktionsschicht der Insel vorherbestimmte.

Im Tagträumen kommt mehr als eine Abneigung gegen das Nichtstun zum Ausdruck. Es widerspricht sich selbst, ist eine Abwehr dessen, was ist, und ein Beharren darauf, was sein sollte; überdies ist es eine Kritik der Wirklichkeit. Was Tagträumende zu träumen beschließen, ist ein Indiz dafür, was in der Wirklichkeit fehlt.

Indem wir die Zerbrechlichkeit hinter der Macht erkennen, die Risse unter der Pracht, würdigen wir den menschlichen Impuls, über die Grenzen des Lebens, wie es ist, hinauszudenken. Tagträume offenbaren nicht nur, was die Wirklichkeit uns verweigert, sondern auch, worauf der menschliche Geist beharrt: auf unendlicher Ausdehnung, auf der Weigerung, sich ganz fassen und einhegen zu lassen.

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Nastaran Makaremi

„Pfaueninsel… was für ein prunkvoller Name. Als Stichwort für Erinnerungen an den Verlust eines unglücklichen Künstlers zu pompös und majestätisch. / Wie ein Federrad, aufgeschlagen über Trümmern, das Rad eines teuflischen Pfaus.“

Nastaran Makaremi ist Schriftstellerin, Journalistin und Künstlerin. Sie schreibt für iranische Medien, veröffentlicht seit 2014 Lyrik und Romane, darunter „Ordibehesht Deadlock“ und „Total“. Neben Literatur engagiert sie sich politisch und startete Kampagnen für inhaftierte Schriftsteller im Iran.

Ach wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Bertold Brecht, aus dem Gedicht
„An die Nachgeborenen“


Konnten selber nicht freundlich sein. Du hast mir gefehlt, Gertrud.1 Seit Langem schon fehlst du mir … Deine beispiellose Ruhe, die dem Zen und östlichen Meditationspraxen ähnelt. Deine tiefe, feste Verbindung zu allem auf dieser Welt, das lebendig ist. Von den Gräsern bis zu den Katzen und den hässlichen Pfauenküken 

… Erinnerst du dich, Gertrud? Ich erinnere deine Schönheit immer auf diese Weise, in dieser ätherischen und erhabenen Stille, während deine Hände den Ton kneten, formen, Wundersames erschaffen. Wie ein kleiner, zarter, ein weiblicher Gott. Ganz anders als der sehnige, kräſtige Herr, umringt von seinen kleinen Engeln, den Michelangelo malte. Du warst ein sterblicher und nahbarer Gott, mit schräg stehenden, betrübten Augen. Hörst du die Geräusche? … Sie machen mich noch ganz verrückt. In meinem Kopf wirbeln sie herum, heulen, und kurz nachdem sie abgeklungen sind, machen aufeinanderfolgende Detonationen meine Ohren taub. Der Zweite Weltwahn, so hatte ich es damals genannt. Denn was außer einem Wahn vermochte die Welt derart für uns zu verdunkeln? „Die Sonne ist tot und ‚Morgen‘ hat in der Vorstellung der Kinder einen trüben, vergessenen Sinn angenommen.“ Das hatte Heckel2 mir vor Längerem einmal am Telefon rezitiert und gesagt, die Verse stammten
von einer iranischen Dichterin. Siehst du, Max,3 sagte er, wie schön und zart sie die Finsternis beschreibt, die über der Welt heraufgezogen ist … Und sagte, dass ihr Name Forugh4 sei … Was Licht bedeute. Auch das Licht hat in seinem Land also von der Finsternis geschrieben, sagte ich ihm darauf. Heckel habe ich ewig nicht gesehen. Heute ist er deprimiert und krank. Von den enthusiastischen Tagen unserer Jugend und all dem, was wir als „Brücke“-Gruppe miteinander erlebten, ist nichts übriggeblieben, und es ist, als seien seitdem tausend über tausend Jahre  ins Land gegangen. Wir Krawallkünstler, wir Entarteten … Was die Nazis mit uns gemacht haben, überstieg die Härten des Krieges noch … Schau mich nicht so an. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir damals alle bloß versucht haben, zu überleben. Ich will nicht unter den Teppich kehren, dass ich feige gewesen bin, und will keinen Helden aus mir machen. Nein. Du hast recht, wenn du sagst, ich sei nichts gewesen als ein Künstler mit einem Hasenherz …

Nun bist du noch einmal zurückgekehrt, um in einer Oktobernacht am Wannseeufer aufzubrechen zur Pfaueninsel, mit einem alten und verrückten Maler, dem Forughs Verse im Kopf herumschwirren; Verse einer Dichterin aus der Welt von Tausendundeiner Nacht, hunderte Kilometer entfernt von uns; und das reicht mir … 

Einmal, während der Bombardierung Charlottenburgs, habe ich alle meine Bilder verloren und später ein weiteres Mal hier auf der Pfaueninsel … Pfaueninsel … Was für ein prunkvoller Name. Als Stichwort für Erinnerungen an den Verlust eines unglücklichen Künstlers zu pompös und majestätisch. Wie ein Federrad, aufgeschlagen über Trümmern, das Rad eines teuflischen Pfaus. Der Künstler, der es vermochte, sich während des Kriegs vor dem Ruin zu bewahren, ist ohnehin ein sonderbares Geschöpf. Aber wenn ich darüber nachdenke, dann ist es noch immer das Etikett „Entarteter Künstler“, das mich mehr betrübt als die verbrannten Leinwände. Zensiert zu werden und systematisch ausradiert und all diese menschlichen Tragödien sind schmerzhaſter als eine Kriegsverletzung, schmerzhaſter als der ungleiche Krieg von Kampfflugzeugen gegen einen abgehalſterten Künstler.

In der Finsternis, mit ihren dichten Bäumen und dem schrillen Schrei der Pfauen, der gelegentlich zu hören ist, wirkt die Insel bizarr und furchteinflößend … – Hörst du sie? Sie schreien so laut und unablässig durch Nebel und Dunkelheit, als wollten sie einander über die Ankunſt der Fremdlinge unterrichten. Aber wir sind hier nicht fremd, Gertrud. Zumindest an dich, die die Pfauenküken aufgezogen hat, sollten sie sich erinnern.

Die Insel wirſt mich in die Tage zurück, in denen die tödliche Krankheit dir nach und nach das Leben aussaugte. Wenn du vom Tod sprachst, lachten wir; ich sagte, bis du mich Übel los wärst, sei noch lange hin, und wir beide wussten, dass das gelogen war. Eine gewöhnliche Lüge, die man den Todgeweihten erzählt. Vor uns liegen noch viele Tage! … Nein … Viele Tage blieben dir nicht. Die letzten Seiten wurden deinem Lebenskalender ausgerissen und jeden Morgen, den wir in dem verlassenen Gutshaus auf der Pfaueninsel die Augen aufschlugen, dachten wir uns still: „Diesen Tag haben wir noch …“

Und hier steht es, das Gutshaus, in dem du die letzten Tage deines Lebens verbracht hast. Überall an den Wänden sind noch immer Brandspuren zu sehen … Die Wände sind feucht und haben Moos angesetzt, ein modriger Geruch hängt über allem. In den Ecken und entlang der Wände steht allerlei Krempel, wie in einem Zeughaus. Für den Blick dahinter und darunter bin ich zu alt. Ich habe Sorge, etwas könnte mir auf den Fuß oder den Rücken fallen und dann wär’s das gewesen mit mir. Aber wo der Teufel mich schon mal hierher geritten hat, will ich nicht mit leeren Händen zurückkommen … Hier ist unser Schlafzimmer, Gertrud, und hier in der Ecke der Schrank, in dem du all die kleinen Dinge aufbewahrt hast, die dir lieb und teuer waren. Lässt du mich einen Blick hineinwerfen? Natürlich lässt du mich. Dafür bist du ja hergekommen…Sieh’s dir an … Ich kann’s nicht glauben … Das eine hier ist davongekommen. Schau, wie ramponiert, wie durchweicht und moosüberzogen es ist … Als hätte es lange im Morast gelegen … In solchen Momenten hat ein breiter Schal seine Nützlichkeit; ich wische das Moos weg und den abgelagerten Moder, die Läsionen und Alterserscheinungen … Sieh dir das Porträt an, Gertrud … Schau dich an … Was für ein Wunder … Wach und lebendig … Direkt vor mir, mit schräg stehenden, betrübten Augen, einem hässlichen Pfauenküken im Arm, und hinter dir die Stadt in Flammen… 

Aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß

1 Gertrud „Turu“ Kant (1893–1944), Porzellanmalerin
2 Erich Heckel (1883–1970), expressionistischer Maler 
3 Max Kaus (1891–1977), expressionistischer Maler 
4 Forugh Farrochsad (1834–1967), iranische Dichterin 

Ludmila Pogodina

Meine getriebene Seele verbrachte Jahre / Auf der Suche nach einer Insel oder einem Binnenreich des Friedens.

Ludmila Pogodina ist Schriftstellerin, Künstlerin und Artdirektorin aus Minsk. Sie hat 20 Jahre als Journalistin gearbeitet, bevor sie 2011 anfing, sich der Kunst und Literatur zu widmen. Sie war unter anderem Artist-in-Residence im Zentrum für Kunst und Urbanistik, Berlin, und Stipendiatin der Martin-Roth-Initiative, Berlin.

Eine Insel in der Zelle einer Stadt
Einer Vier-Millionen-Seelen-Stadt
Ich stoße auf die Ruinen einer Fake-Kirche
in einem Fake-Paradies
Was treiben die Seelen in einem Fake-Paradies –
In die Clubs gehen oder nach Erlösung davon suchen?
Meine getriebene Seele verbrachte Jahre
Auf der Suche nach einer Insel oder einem Binnenreich des Friedens
Durch innere und äußere Exile
Durch belarussische Sümpfe und Wälder
Überflog italienische Berge und versteckte deutsche Geschichten
Flog über die Ruinen von Imperien
Auf der Suche nach einem sicheren Hafen
Wie diese Insel
Vielleicht einer ist
Oder auch nicht

Nichts auf der Vogelinsel ist, wie es scheint
Ich weiß mit Sicherheit, dass eine
schwarze Henne das Tor zu einer anderen Dimension ist
Ins Königreich des Königs, über den man mit niemandem sprechen darf
Denn der König ist nackt
Denn käme das raus
Verschwände das unterirdische Königreich
Wie die unbequemen Geschichten
verschwinden
Aus den Lehrbüchern
Von den Wikipedia-Seiten
Aus den Bücherregalen
Aus dem kollektiven Gedächtnis
Wie all das verschwindet, worüber man nicht sprechen darf

Nicht laut
Nur leise darf man, in der Küche
Aber wenn dich jemand hört
Kriegst du in die Magengrube
Ich bin aber keine
Die immer schweigt
Ich bin eine, die ab und an schreit
Innerlich
Oder jetzt, an eurer Seite, auch laut

Ich weiß mit Sicherheit, dass die
schwarze Henne das Tor zu einer anderen Dimension ist
Zu einem unterirdischen Königreich,
über das man nicht sprechen darf (doch muss)
Dann aber … ist ein weißer Pfau ein Tor wohin?
Weit weg von zu Hause gibt es keine Schlangen zu essen
Doch immer noch widerstehst du ihrem Gift
Du – das Symbol der „Säuberung“
Aber was, wenn die „Säuberung der Nation“ Gift ist
Wie hältst du dem stand, weißer Vogel?

Nichts ist, wie es scheint, in einem Fake-Paradies
Fake-Kirche, Fake-Schätze, Fake-Ruinen
Das einzige Echte ist der unwirkliche Vogel
Der eine, der hier war
Als ein Alchemist Fake-Blut aus Glas machte
Wie viele Seelen wurden ausgetauscht gegen dieses Fake-Blut?
Weit weg von zu Hause
Brütende Pfauen und blutendes Glas
Wir sind besessen von echten Verbrechen,
solange sie anderen widerfahren

Wusstest du, dass Vögel eher singen, wenn sie sich sicher fühlen
Und meistens stumm bleiben, wenn man sie bedroht?
Eine Insel in der Zelle einer Stadt
Einer Vier-Millionen-Seelen-Stadt
Ich brauche keine Religion, um eine Seele zu haben
oder doch?

Ich habe Jahre verbracht
Auf der Suche nach einer Insel oder einem Binnenreich des Friedens
Ich weiß mit Sicherheit, dass mein Binnen-
reich des Friedens keinen Herrscher hat
Keine Herrscherin
Wahrscheinlich hat es Vögel
Die frohe Lieder singen
Weil sie sich sicher und geborgen fühlen
Dort wird meine Seele singen
Weil sie sich sicher und geborgen fühlt
Aber im Augenblick
Ist das Einzige, was ich in mir höre,
Der Schrei eines Pfaus
Als Warnung
Dass ich noch nicht da bin

Berlin, Juli 2025

Aus dem Englischen von Sylvia Geist, aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann
Der kursiv gesetzte Teil des Gedichts steht im englischen Original auf Belarussisch.

Milad Khawam

Milad Khawam ist Trompeter, Produzent und Komponist. 2017 komponierte er den Soundtrack für "No Monsters in Berlin", der den Großen Preis der Jury für Vielfalt im Cannes Short Film Showcase gewann. Khawams Album "To the West“ wurde im Mai 2020 veröffentlicht.

Impressionen

Am 13. September 2025 fand eine literarische Wanderlesung ‚Nothing is what it seems‘ statt, bei der die neu entstandenen Texte erstmals öffentlich präsentiert wurden. Die Veranstaltung wurde musikalisch begleitet von Milad Khawam.

Weiter Schreiben ist ein literarisches Programm für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Seit 2017 veröffentlicht das Projekt auf dem Onlineportal www.weiterschreiben.jetzt übersetzte, illustrierte und zweisprachige Lyrik und Prosa – vor allem aus dem Arabischen und Persischen.