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Entführt und in Form gepresst – eine junge Osmanin in Brandenburg

08. April 2025 Von Alexander Reich

Wir erreichen Einheit nur durch Vielfalt. 
Unterschiede müssen integriert, nicht ausgelöscht, nicht absorbiert werden.

– Mary Parker Follett

 

Mit Edelsteinen, Gold und Perlen geschmückt schaut die junge Frau mit dem dichten schwarzen Haar nach rechts. Doch der Schein trügt: Das Gemälde zeigt keine junge Adlige sondern eine vor knapp 350 Jahren nach Brandenburg verschleppte „Beutetürkin“ namens Sophia Charlotta – dies nimmt die Forschung zumindest an. 

An den Rändern Südosteuropas wüteten zu dieser Zeit die „Türkenkriege.“ Die im Rahmen dieser Konflikte nach Europa verschleppten Menschen wurden als Türkinnen und Türken bezeichnet, ganz egal aus welchem Teil des riesigen Osmanischen Reiches sie stammten. Sophia Charlottas Heimatregion lag vielleicht im heutigen Oberungarn. Dort fanden in den 1680er Jahren viele Schlachten und Gefangennahmen statt.

Was würden wir denken, wenn wir selbst oder unsere Kinder als „Siegestrophäen“ entführt, uns und ihnen der Name geraubt und die Anpassung an eine fremde Kultur aufgezwungen wird? Genau das ist Sophia Charlotta passiert: Ihr Geburtsname geriet in Vergessenheit, als sie nach ihrer Verschleppung nach Brandenburg in den Dienst der Kurfürstin Sophie Charlotte trat. Ihr neuer Name wurde der neuen Herrin angepasst. Das alles geschah in einer Zeit, als es universelle Menschenrechte nicht gab und die Menschen nicht das gleiche Unrechtbewusstsein besaßen, wie wir es heute tun. Trotzdem ist erwiesen, dass bis heute nicht alle Menschen der Gesellschaft gleichwertig behandelt werden. Vor allem Minderheiten leiden unter Ausgrenzungen, Benachteiligungen und Anfeindungen. Selbst das internationale Recht scheint sie weniger zu schützen. Das ist vor allem eine Folgeerscheinung von strukturellem (Kultur-)Rassismus. Davon sind unter anderem auch Muslim:innen betroffen. 

Die erwartete Anpassung an und Integration in die hiesige Kultur war im 17. Jahrhundert allerdings noch wesentlich strikter als heute: Sophia Charlotta musste am 16. April 1689 in der Berliner Domkirche durch eine erzwungene „Türk:innentaufe“ zum Christentum konvertieren. Zum Abschluss des Taufaktes musste sie ihre alte Identität ablegen, dazu gehörten ihr kultureller Hintergrund, ihre Religionszugehörigkeit und auch ihr Geburtsname. Sie musste die deutsche Sprache lernen und vermutlich als eine Kammertürkin im Dienst der Kurfürstin arbeiten. Diese Arbeit wurde bezahlt und war laut Aussagen eines Biografen des 19. Jahrhunderts nicht körperlich anstrengend: Sie bestand hauptsächlich daraus, die Kurfürstin beim Ausgang und bei Reisen zu begleiten, auf ihre Wünsche und Neigungen zu achten, sie zu bedienen und ihr zu gefallen. Und doch waren diese Menschen nie genauso frei wie es deutschstämmige Bedienstete waren.

Wie sich das Leben von „Beutetürk:innen“ angefühlt haben könnte, ist nur teilweise zu rekonstruieren: Sie zeichnen sich durch ihre Kriegserfahrungen und die anschließende Verschleppung aus. Viele von ihnen wurden gegen Geld weiterverkauft, weswegen durchaus von Sklaverei gesprochen werden kann. Eine große Zahl wurde an europäische Höfe gebracht und musste in Dienst- oder anderen Verhältnissen der Abhängigkeit leben. Nur wenigen war ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich und dies auch nur, wenn ihre „Herr:innen“ diesen förderten. In ihrer Tätigkeit als Bedienstete am Hof mussten sie wahrscheinlich regelmäßig orientalisierende Kostüme tragen um bei Kostümfesten und anderen Feierlichkeiten die „Exotismen“ des „Orients“ zu repräsentieren. 

Während es Erkenntnisse über den Alltag und die Tätigkeiten von Beutetürk:innen gibt, kann über ihren psychischen Zustand nur gemutmaßt werden: Die Forschung geht jedoch davon aus, dass die traumatischen Erlebnisse ihrer Gefangennahmen, oftmals als Kinder oder junge Erwachsene, bleibende Wunden hinterließen. Besonders tragisch ist es daher, dass an den europäischen Höfen Kriegs- und Piratenspiele stattfanden, bei denen sie gemeinsam mit anderen Hofangestellten in Verkleidung gegeneinander kämpfen mussten. Auch bei diesen Spielen wurden Gefangene genommen. „Das Hofpersonal konnte sich dabei wohl auch an die eigene Gefangennahme, [die Zerstörung ihrer Heimat und die Ermordung von Familienmitgliedern] erinnert fühlen.“

Ob das Leben am Hof der Kurfürstin für Sophia Charlotta traumatisch war, ist nicht zu beantworten. Wir wissen nur, dass sich ihr Schicksal wandelte: Um 1697 heiratete sie den Hofapotheker Adam Possart und erreichte so eine sehr hohe und privilegierte Stellung. Der gemeinsame Sohn, Carl Friedrich, wurde 1698 getauft. Damit hatte sie sich vorbildlich in die brandenburg-preußische Gesellschaft integriert. Ob sie trozdem mit Rassismus konfrontiert wurde, wissen wir nicht, und können es nur vermuten.

Nur wenige Menschen hatten im 17. Jahrhundert die Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg. Im Vergleich mit der angestammten lokalen Bevölkerung muss dieser für die aus dem Osmanischen Reich verschleppten „Beutetürk:innen“ noch schwieriger gewesen sein. Auch heute noch ist der soziale Aufstieg schwieriger für Menschen mit Migrationshintergrund, eine Rolle spielt dabei aber auch der soziale Stand der Familie. Die Geschichte dieses Gemäldes zeigt deutlich, dass Muslim:innen schon seit mehreren hundert Jahren ein Teil unserer Gesellschaft sind, sich anpassen mussten, überleben mussten und unser Land unterstützt und bereichert haben

Dass diese Überlegungen überhaupt stattfinden können, verdanken wir dem Porträt Sophia Charlottas. Kurfürstin Sophie Charlotte hatte ein ausgeprägtes Interesse an anderen Kulturen, Gebräuchen und Moden und war besonders fasziniert von „Türk:innen“. Zudem muss sie die junge Bedienstete geschätzt haben, oder befand sie mindestens aufgrund ihrer Schönheit würdig, portraitiert zu werden. So hat sich bei all den Aspekten ihrer Identität, die verloren gegangen sind, zumindest das Gesicht Sophia Charlottas für die Nachwelt erhalten.

Der Artikel ist Teil der Online-Ausstellung „Volker Hermes: Portrait & Mensch“.

Kidnapped and pressed into shape - a young Ottoman woman in Brandenburg

“We can only achieve unity through diversity. 
Differences must be integrated, not erased, not absorbed.” 

– Mary Parker Follett

Adorned with precious stones, gold, and pearls, the young woman with thick black hair looks to the right. But appearances are deceptive: The painting does not depict a young noblewoman but a „booty turk (Beutetürkin)“ named Sophia Charlotta who was deported to Brandenburg almost 350 years ago – at least that is what researchers believe. 

At this time, the “Turkish wars” were raging on the fringes of south-eastern Europe. The people deported to Europe as part of these conflicts were referred to as Turks, regardless of which part of the vast Ottoman Empire they came from. Sophia Charlotte's home region may have been in what is now Upper Hungary. Many battles and captures took place there in the 1680s.

What would we think if we ourselves or our children were kidnapped as “trophies of victory”, robbed of our name and theirs, and forced to adapt to a foreign culture? This is exactly what happened to Sophia Charlotta: Her birth name was forgotten when she entered the service of Electress Sophie Charlotte after being deported to Brandenburg. Her new name was adapted to suit her new mistress. This all happened at a time when universal human rights did not exist and people did not have the same awareness of injustice as we do today. Nevertheless, it has been proven that not all people in society are treated as equals to this day. Minorities in particular suffer from exclusion, discrimination and hostility. Even international law seems to protect them less. This is primarily a consequence of structural (cultural) racism. Muslims, among others, are also affected by this. 

However, the expected adaptation to and integration into the local culture was much stricter in the 17th century than it is today: Sophia Charlotta had to convert to Christianity on April 16, 1689 in the Berlin Cathedral Church through a forced “Turkish baptism”.“ At the end of the baptism, she had to shed her old identity, including her cultural background, her religious affiliation and even her birth name. She had to learn the German language and presumably work as a „chamber turk“  in the service of the Electress. This work was paid and, according to a 19th century biographer, was not physically demanding: It consisted mainly of accompanying the Electress on her outings and journeys, paying attention to her wishes and inclinations, serving her and pleasing her.  And yet these people were never as free as German-born servants were.

We can only partially reconstruct what life might have been like for the “booty turks”: They are characterized by their experiences of war and subsequent deportation. Many of them were sold on for money, which is why it is fair to speak of slavery. A large number were brought to European courts and had to live in servitude or other conditions of dependence. Social advancement was only possible for a few, and only if their “masters” promoted it. In their work as servants at court, they probably had to regularly wear orientalizing costumes to represent the “exoticisms” of the “Orient” at costume parties and other festivities. 

While there are findings about the everyday life and activities of „booty turks“, we can only speculate about their mental state. However, research assumes that the traumatic experiences of their captivity, often as children or young adults, left lasting wounds. It is therefore particularly tragic that war and pirate games took place at the European courts, in which they had to fight each other in disguise, together with other court employees. Prisoners were also taken during these games. “The court staff could also feel reminded of their own capture, [the destruction of their homeland and the murder of family members].”

Whether life at the Electress's court was traumatic for Sophia Charlotta cannot be answered. We only know that her fate changed: Around 1697, she married the court apothecary Adam Possart and thus attained a very high and privileged position. Their son, Carl Friedrich, was baptized in 1698. She had thus integrated herself into Brandenburg-Prussian society in an exemplary manner. Whether she was nevertheless confronted with racism, we do not know and can only assume.

Only a few people had the chance of social advancement in the 17th century. Compared to the local population, this must have been even more difficult for the “booty turks” deported from the Ottoman Empire. Even today, social advancement is still more difficult for people with a migrant background, but the social status of the family also plays a role here. The history of this painting clearly shows that Muslims have been a part of our society for several hundred years, have had to adapt, survive and have supported and enriched our country.

We have Sophia Charlotta‘s portrait to thank for the fact that these reflections can take place at all. Electress Sophie Charlotte had a keen interest in other cultures, customs and fashions and was particularly fascinated by “Turks”. She must also have appreciated the young servant, or at least considered her worthy of being portrayed because of her beauty. So for all the aspects of her identity that have been lost, at least Sophia Charlotte's face has been preserved for posterity.

This blog article is part of the online exhibition ‘Volker Hermes: Portrait & Person’.

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